Zugegeben: Es war vielleicht nicht die beste Idee meine Jahreskilometerleistung am Rennrad mit einer einzigen Ausfahrt verdoppeln zu wollen. Andererseits: Was sind 140 Kilometer? Das geht doch immer, auch ohne Training. Und die Erfahrungen aus 2014 würden ja einiges wettmachen, denn heuer weiß ich ja wie es geht. Keine Führungsarbeit leisten, nur brav dahinrollen im Peloton, eine genussvoll Sonntagsausfahrt. Als hätte der Veranstalter meine (nicht vorhandenen) Ambitionen und fehlende Kondition erkannt, wurde mir passenderweise ein silbernes Bändchen in den Starterbeutel gelegt. Angekreuzt hatte ich zwar Schnitt über 35 km/h, vor Ort erlaubte das silberne Bändchen dann aber nur Zutritt zum allerletzten Startblock, ich fand gerade noch Platz vor dem Sanitätswagen. Für ortkundige, die wissen wo der Startbogen steht, nämlich gleich neben dem Stadion: Ich konnte diesen nicht sehen, denn mein Startplatz lag wenige Meter vom Handelskai entfernt.
Egal, man fährt ja neutralisiert durch die Innenstadt, und tatsächlich neutralsieren sich hier auch schon die ersten Gegner auf den regennaßen Straßenbahnschienen. Einmal um den Ring, Praterstraße, Lassallestraße geht es hinter dem Vorausfahrzeug Richtung Klosterneuburg. Geringes Tempo, viel Zeit zum Schauen. Und was sieht mann da so? Mädels, Mädels, Mädels. Alle appetitlich verpackt in stylischer Radlwäsche, rosa muß dabei sein, sehr beliebt das rosa Lenkerband. Zur netten Verpackung gehört auch eine sorgfältige Beschriftung, da radeln sie also dahin die Lisi's, Trixi's, Dagi's und Claudia's dieser Fahrrad-Stadt. Auf der Wienerstraße dann an einen Damen-Zweier herangemacht, den ich zum flotten Dreier komplettiere. Vorne Schneewittchen: Gute 1,80 groß, schwarzes Wallehaar in locker gebundenem Zopf, der sich mit zunehmender Fahrt neckisch aufzulösen beginnt. Übrigens dieses schwarz, das sie in Comics immer mit einem Blauton ergänzen. Dahinter Katharina, kleiner brünetter Zopf zwängt sich aus dem Helm, ein alles in allem herrlicher Windschatten! Das fehlende rosa in den Outfits hätte mich warnen sollen, aber wer deutet so etwas schon richtig bei 145 Puls – und die waren nötig um Schneewittchen und Co nicht ziehen lassen zu müssen. Nach dem Kreisverkehr in Klosterneuburg, jener der in die Umfahrungsstraße mündet, wurde das Feld endlich freigegeben. Tempo steigt dann üblicherweise, und gierig saugt sich das Peloton den Anstieg hinauf zum großen Interspar. Während ich noch Gänge sortiere um den Anstieg bewältigen zu können, wippen die Mädels vorne am großen Blatt im Wiegetritt den Anstieg hinauf.
Ölberg über die 18% steile Holzgasse hinauf zum Weißen Hof und nach Haderfeld, runter nach Geifenstein, um in der Ebene über Wördern nach Königstetten zu radeln, wo ja die zweite Bergetappe auf die Dopplerhütte anstand. Ab Greifenstein wieder flotter Dreier, sehr nett, trotz – oder eigentlich wegen – des irren Gegenwindes. Vor dem Anstieg räckelt sich Schneewittchen neckisch aus dem Windjäckchen, mit Katharina im Fokus biege ich ab zum Anstieg, und bereite mich schon auf den Abschied von den Damen vor, denn das ist jetzt wirklich Männersache – und auch „mein“ Berg, Kinder. Es kommt freilich etwas anders: Katharina pflügt sich (es fällt mir kein passenderer Begriff ein) durch das Feld nach oben. Und ich, der ich durchaus keine Strava-Bestzeit angepeilt hatte (wir stehen erst bei km 30), werde zu forciertem Tempo genötigt, weil man sich den kurzen, effizienten Wiegetritt in den Kurven einfach nicht entgehen lassen will. Mir geht's aber an sich gut, ich kenne den Berg, und Berge liegen mir ja grundsätzlich. Habe auch genug Luft um reden zu können, also könnte ich das nette Mädel doch wirklich mal begrüßen. Schiebe mich also auf gleiche Höhe: „Hallo Katharina, radfahren kannst!“ will ich ihr ins Ohr flüstern, in allerletzter Minute erkenne ich im Augenwinkel, dass das wohl keine so gute Idee wäre. Hier sitze nämlich Kate Allen im Sattel, jünger, hübscher, aber durchaus in der Lage Dir reflexartig das Nasenbein zu brechen, Dir Macho-Chauvi in der Midlife-Crisis. Also still weitergeradelt, die Bergwertung dann doch noch souverän gewonnen – der Frust über die undenkbare Kontaktaufnahmemöglichkeit hat offenbar verborgene Kräfte mobilisiert. War aber ein Fehler. Der erste, weit schlimmere werden heute noch folgen. Zwar bin ich noch nie so schnell hinunter gefahren Richtung Mauerbach, die Dopplerhütte hat aber offenbar doch Spuren hinterlassen, jedenfalls wippt bereits auf den ersten Metern hinauf zum Tulbinger Kogel (3.Bergwertung) Katharina an mir vorbei: anmutig, kühl, fokusiert. Im Ziel wird das ein Leidensgenosse so kommentieren: Bei der sah das alles so leicht aus. Auf den letzten Metern ganz oben am Tulbingerkogel sprinte ich sie dann doch noch nieder, denn oben bei der Labe will ich kurz stehenbleiben und verschnaufen. Ups: Hier gibt es ja gar keine Labe.
Von 137 Kilometern Gran Fondo haben wir 37 km hinter uns, und 100 km Ebene vor uns. 100 km Ebene und Gegenwind. Vom letzten Jahr weiß ich: Jetzt keinen Blödsinn machen! Nur buckeln, nie treten. Also keine Führungsarbeit, immer faul im Feld mitrollen. Das geht auch wirklich gut. Wir sind ein großer Pulk, ich mache mich so klein wie möglich, und bin wirklich gut und effizient unterwegs. Kathi natürlich immer dabei, mal hinter mir, mal vor mir, aber nie an der Spitze (klug die kleine). Die Kilometer purzeln, wir nähern uns langsam aber stetig dem Ziel. Leider wird unser Peloton immer langsamer, 30 km/h, 28, 26. So wird das nix, Burschen, also werfe ich meine Grundsätze über Bord und lasse mich zu Führungsarbeit verleiten. Andere tun mit, wir werden wieder schneller, kräftige Jungwaden strampeln tapfer gegen den Wind. Ein Peter tut sich besonders hervor, unglaublich wie lange der dieses Tempo durchhält ohne sich abwechseln zu lassen. Damit der arme nicht kollabiert ziehe ich an ihm vorbei, werfe ihm lobende Worte zu und bemerke dabei: Peter und ich sind alleine auf weiter Flur. Der Pulk nicht mehr sichtbar, völlig abgehängt. Wow. Das beflügelt. Irgendwie ist mir klar, dass ich jetzt in eine Falle tappe, aber was sollten wir tun? Warten auf das Peloton hinter uns. Nein: Wir schnappen uns lieber die Kollegen da vorne und nutzen dann deren –Windschatten. Gesagt, getan. Die Typen sind zum Glück nur 300 m vor uns, der Gegenwind aber so beschissen, dass wir etwa 30 Minuten brauchen da ranzukommen. Völlig (!) ausgepumpt schaffen wir es endlich aufzuschließen, mir ist aber sofort klar, dass ich mich völlig überfordert habe und total ausgebrannt bin. Ich schaffe es nämlich kaum noch das Tempo dieser an sich langsameren Gruppe zu halten. Und dann Thor's Hammer, der schicksalshaft niedersaust wie in den frühen Heldensagen: Im nächsten Ort überholt uns völlig spielerisch „unser“ Pulk, angeführt von - Schneewittchen!
Zum körperlichen Zusammenbruch kommt jetzt auch noch die völlige Demoralisierung, und der wahnsinnige Ärger über meine Dummheit. Wäre ich nur in der Gruppe geblieben, ich wäre jetzt an der exakt gleichen Position, aber total ausgeruht und bei Kräften. So bin ich fertig, und zwar so richtig fertig. Ich habe Angst vor einem Kreislaufzusammenbruch, ich bitte Freunde die ich zufällig treffe und die ohne Startnummer die Strecke abfahren, mich in ihre Mitte zu nehmen. Daniel schiebt mich die gesamte Donauinsel bis zur Reichsbrücke. Alleine die Hand auf meinem Rücken war ein Segen, denn ich war wirklich knapp am Kollaps, und würde so wenigstens nicht alleine im Straßengraben liegen. Danke Daniel!
Die Reichsbrücke wie schon letztes Jahr solo überquert. Solo den Handelskai entlang bis ins Ziel zum Stadion. Zeit: Irgendwas knapp unter 5 Stunden. Katharina vermutlich schon in der Hauptallee laufen, als lockere Trainingseinheit für den nächsten Ironman. Schneewittchen wohl längst daheim in der Badewanne: Nicht einmal von meinem Becherchen hat sie getrunken. Na ja, was kann man erwarten als achter Zwerg.
KonRAD F. AHRER
Wien, am 3. Mai 2015